Polen nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Beitrag von: Andreas Storm

1. Ausgangslage: Die politische Landschaft Polens im Wandel
Die politische Landschaft Polens ist seit einem Jahrzehnt durch den Dualismus zweier bürgerlicher Parteien geprägt. Während die ersten Jahre nach dem Fall des Kommunismus noch ganz im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen den Parteiformationen, die aus der SOLIDARNOSC-Gewerkschaftsbewegung hervorgegangen waren, und dem BÜNDNIS DER DEMOKRATISCHEN LINKEN (SLD) als Nachfolgeorganisation der ehemaligen kommunistischen Staatspartei standen, kam es nach der Jahrtausendwende zur Herausbildung zweier konkurrierender Bewegungen im bürgerlichen Lager. Die im Jahr 2001 von den Brüdern Kacynski gegründete Partei RECHT UND GERECHTIGKEIT (PIS) konnte bei der Parlamentswahlen im Jahr 2005 die SLD als stärkste politische Kraft ablösen und eine Minderheitsregierung bilden. Gleichzeitig gelang es Lech Kacynski im Herbst des gleichen Jahres, die Präsidentschaftswahlen mit 54 % der Stimmen in der Stichwahl gegen Donald Tusk (PO) klar für sich zu entscheiden. Nach zwei turbulenten Regierungsjahren kam es 2007 zu vorgezogenen Parlamentswahlen, die zu einem Regierungswechsel nach einem klaren Wahlsieg der BÜRGERPLATTFORM (PO) von Donald Tusk führten.

Nachdem Staatspräsident Lech Kacynski am 10. April 2010 bei einem tragischen Flugzeugabsturz tödlich verunglückte, trat sein Bruder Jaroslav Kacynski als Kandidat der PIS bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im Sommer 2010 an. Sein Hauptkontrahent war der damalige Parlamentspräsident Bronislaw Komorowski (PO), der nach dem Ableben des Staatspräsidenten gemäß der polnischen Verfassung vorübergehend auch die Funktion des Staatsoberhauptes übernommen hatte. Komorowski, der bereits im ersten Wahlgang deutlich in Führung gelegen hatte, konnte mit 53 % der Stimmen in der Stichwahl einen klaren Wahlsieg einfahren. Im Folgejahr gelang es der PO mühelos, auch bei den Parlamentswahlen einen eindeutigen Wahlerfolg zu erzielen. Die seit 2007 von der BÜRGERPLATTFORM (PO) gemeinsam mit der POLNISCHEN VOLKSPARTEI (PSL) gebildete Koalition stellte mittlerweile die am längsten amtierende Regierungsformation seit der Wende 1989/90 dar.

 

2. Die Präsidentschaftswahl im Mai 2015 als Vorspiel zum Wechsel

Nachdem der langjährige polnische Ministerpräsident Donald Tusk im Herbst des vergangenen Jahres zum Präsidenten des Europäischen Rates berufen wurde, trat die bisherige Parlamentspräsidentin Ewa Kopacz seine Nachfolge an der Spitze von Partei und Regierung an. Während somit die neue Regierungschefin bei den Parlamentswahlen in diesem Herbst ihr Debüt als PO-Spitzenkandidatin gab, deutete für die Präsidentschaftswahl im Mai alles auf eine Wiederholung der Konstellation aus dem Jahr 2010 hin. Um diesem Zweikampf aus dem Wege zu gehen, stellte der PIS-Vorsitzende Jaroslav Kacynski vor wenigen Monaten überraschend den bis dahin weitgehend unbekannten Europaabgeordneten Andrzej Duda als Präsidentschaftskandidaten seiner Partei vor. Wurde diese Bewerbung anfangs noch als völlig chancenlos abgetan, zeigte sich schon bald, dass der Opposition mit der Kandidatur Dudas ein genialer Schachzug gelungen war. Der Wahlkampf wurde – entgegen allen Erwartungen – von Woche zu Woche spannender. Ein zu Jahresbeginn noch für denkbar gehaltener Wahlsieg des amtierenden Staatspräsidenten bereits in der ersten Runde wich zunehmend der Erwartung, dass sich Präsident Komorowski einer Stichwahl mit dem Überraschungskandidaten der oppositionellen PIS stellen müsse. An einem Wahlsieg Komorowskis spätestens in der zweiten Runde hatten aber nahezu alle politischen Beobachter noch am Vorabend des ersten Wahlgangs keine wirklichen Zweifel.
Als am 10. Mai um 21 Uhr die Wahllokale geschlossen und die Ergebnisse der Wahltagsbefragung im polnischenFernsehen veröffentlicht wurden, ging ein Raunen durch die polnischen Nachrichtensen-dungen: Nicht der als haushoher Favorit gehandelt amtierende Staatschef, sondern sein oppositionel-ler Kontrahent Duda ging mit einem leichten Vorsprung als Sieger der ersten Wahlrunde durchs Ziel.

Die zweite große Überraschung des Wahltages war der mit gut 20 % unerwartet hohe Stimmenanteil für den parteilosen Rocksänger Pawel Kukiz, der vor allem Protestwähler um sich sammeln konnte. Ein völliger Ausfall war dagegen die Kandidatur der Historikerin Magdalena Ogorek, die als Bewerberin der DEMOKRATISCHEN LINKEN (SLD) mit weniger als 3 % der Stimmen vorlieb nehmen musste. Sieben wei-tere Bewerber konnten insgesamt nur rund 8 % der Stimmen auf sich vereinen. Beflügelt von seinem unerwartet großen Wahlerfolg kündigte Pawel Kukiz bereits die Gründung einer eigenen Partei an, um bei den Parlamentswahlen im Oktober antreten zu können. Für die Stichwahl am 24. Mai hatte Kukiz erwartungsgemäß auf eine Wahlempfehlung verzichtet. Am Abend des zweiten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl am 24. Mai mussten sich die Polen zu-nächst noch einige Stunden in Geduld üben. Der Grund war allerdings keineswegs ein knappes Wahl-ergebnis, sondern die durch einen Todesfall bedingte Verlängerung der Öffnungszeit in einem einzigen Wahllokal um 90 Minuten. Als dann um 22.30 Uhr die Ergebnisse der Wahltagsbefragung bekannt ge-geben wurden, war die Überraschung perfekt: Mit einem Vorsprung von sechs Prozentpunkten in den „Exit Polls“ hatte der Herausforderer Andrzej Duda (PIS) den amtierenden Präsidenten viel eindeutiger geschlagen, als es im Vorfeld für möglich gehalten wurde. Zwar hatte sich der Abstand zwischen den beiden Bewerbern bis zur Bekanntgabe des vorläufigen Endergebnisses am Montagabend noch nahezu halbiert. Dennoch fiel der Wahlerfolg für den Überraschungssieger Duda eindeutig aus. Die Wahlbeteiligung war im Vergleich zum ersten Wahlgang um rund sechseinhalb Prozentpunkte auf 55.4 % gestiegen. Das Wahlergebnis stellte fast eine Umkehrung des Resultats der letzten Präsidentschaftswahl vor fünf Jahren dar.

 

3. Der Weg zur Parlamentswahl: Neuformation der Parteienlandschaft

Am Tag nach der Präsidentschaftswahl waren sich nahezu alle politischen Beobachter in Polen darüber einig, dass die Abwahl des amtierenden Staatspräsidenten eine nachhaltige Signalwirkung für die bevorstehenden Parlamentswahlen im Oktober haben würde. Während die BÜRGERPLATTFORM (PO) den Urnengang vor vier Jahren mit einem Vorsprung von fast zehn Prozentpunkten vor RECHT UND GERECHTIGKEIT (PIS) klar für sich entscheiden konnte, war nunmehr die Aussicht auf einen Regierungs-wechsel in greifbare Nähe gerückt.

Bereits nach der ersten Wahlrunde der Präsidentschaftswahl hatte das Meinungsforschungsinstitut TNS ermittelt, dass die Mehrheitsverhältnisse zwischen den beiden großen Parteien gekippt waren. Während in der Ende April abgeschlossenen Umfrage für PO mit 34 % noch ein Vorsprung von sieben Prozentpunkten vor PIS mit 27 % gemessen wurde, erbrachte die am 14. Mai – also nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen – abgeschlossene letzte Befragung zu den Wahlabsichten bei der Parlamentswahl mit einem Stimmenanteil von nur noch 28 % (-6) für PO und 35 % (+8) für PIS bereits eine Umkehrung der Verhältnisse. Damit zeichnete sich schon frühzeitig ein politischer Erdrutsch bei unseren östlichen Nachbarn ab. Im Vorfeld der Parlamentswahl kam es zu erheblichen strategischen Umgruppierungen und Neuaufstellungen in der polnischen Parteienlandschaft:

  • Um das Erfolgsmodell der Präsidentschaftswahl auch auf die Parlamentswahl zu übertragen, verzichtete der umstrittene PIS-Parteivorsitzende Jaroslaw Kaczynski auf die Spitzenkandida-tur seiner Partei und machte statt dessen die bis dahin weitgehend unbekannte Abgeordnete Beata Szydlo zur Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin. Zugleich bildete die Partei RECHT UND GERECHTIGKEIT (PIS) ein Wahlbündnis mit drei kleineren Rechtsparteien.
  • Um die Chancen des linken Lagers nach dem desaströsen Ergebnis der Präsidentschaftswahl zu erhöhen, bildete die DEMOKRATISCHE LINKE (SLD) mit der aus der PALIKOT-Bewegung her-vorgegangenen Gruppierung YOUR MOVEMENT (YR) sowie weiteren linken und grünen Splitterparteien das Wahlbündnis VEREINIGTE LINKE (ZL). Allerdings war diese Kooperation nicht ohne Risiko, da die für den Einzug ins Parlament relevante Sperrklausel für Wahlbünd-nisse acht Prozent beträgt und damit deutlich über der für allein kandidierende Parteien geltenden Marke von fünf Prozent liegt.
  • Neben der von Pawel Kukiz gegründeten Bewegung KUKIZ‘15 traten auch die von Ryszard Petru ins Leben gerufene wirtschaftsliberale, pro-europäische Partei .MODERN (.N) sowie die von linken Aktivisten gegründete Gruppierung GEMEINSAM (RAZEM) erstmals bei einer nationalen Parlamentswahl an.
  • Die agrarisch-geprägte POLNISCHE VOLKSPARTEI (PSL) unter Janusz Piechocinski sowie die kleine rechtsgerichtete Protestbewegung von Janusz Korwin-Mikke (KORWIN) traten ebenfalls landesweit an, während das WAHLKOMITEE DER DEUTSCHEN MINDERHEIT (MN) unter Ryszard Galla nur auf der regionalen Ebene mit Kandidaten vertreten war.

 

4. „Exit Polls“: Polen wählt den Wechsel

Als unmittelbar nach der Schließung der Wahllokale um 21 Uhr die Ergebnisse der „Exit Polls“ des IPSOS-Instituts im polnischen Fernsehen veröffentlicht wurden, war klar: Die Polen haben sich ganz eindeutig für den politischen Wechsel entschieden. Das Ergebnis kann nicht wirklich überraschen, da seit der Präsidentschaftswahl Ende Mai die BÜRGERPLATTFORM (PO) in allen Umfragen mehr oder weniger deutlich hinter der oppositionellen Partei RECHT UND GERECHTIGKEIT (PIS) zurücklag. Die einzige Frage in den letzten Tagen vor der Wahl war lediglich, ob die PIS alleine regieren oder einen Koalitionspartner für die Regierungsbildung benötigen würde. Mit fast 38 Prozent der Stimmen ist es der PIS gelungen, eine knappe absolute Mehrheit der Mandate im Sejm zu erobern. Dabei profitiert die künftige Regierungspartei vor allem davon, dass mit der VEREINIGTEN LINKE (ZL), KORWIN und RAZEM gleich drei Listen an der Sperrklausel gescheitert sind und damit rund 17 % der abgegebenen Stimmen bei der Sitzverteilung unberücksichtigt bleiben.

 

5. Ausblick: Polen rückt nach der Parlamentswahl 2015 nach rechts

Zwei Tage nach der Wahl ist klar, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im polnischen Parlament komplett umgekehrt haben: Die nationalkonservative Partei RECHT UND GERECHTIGKEIT (PIS) verfügt erstmals über eine knappe absolute Mehrheit der Sitze im Sejm und kann somit alleine regieren. Nach acht Jahren muss die bislang führende BÜRGERPLATTFORM (PO) auf die Oppositionsbänke wechseln. Zur allgemeinen Überraschung ist die VEREINIGTE LINKE (ZL) knapp an der für Wahlbündnisse geltenden Acht-Prozent-Hürde gescheitert. Da auch die neugegründete Bewegung GEMEINSAM (RAZEM) die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht überwinden konnte, sind erstmals keine Vertreter des linken Parteienspektrums mehr im polnischen Sejm vertreten. Die Protestbewegung des Rocksängers Kukiz (KUKIZ’15) konnte sich dagegen mit fast neun Prozent der Stimmen auf Anhieb den dritten Platz im polnischen Parteiengefüge sichern. An den sensationellen Erfolg bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 10. Mai, als Pawel Kukiz sogar auf gut 20 % der Stimmen gekommen war, konnte die neue Partei allerdings nicht ganz anknüpfen. Zu den Verlierern zählt schließlich auch die POLNISCHE VOLKSPARTEI (PSL), die gerade noch so den Wiedereinzug ins Parlament geschafft hat und erhebliche Mandatsverluste in Kauf nehmen muss. Die rechtsgerichtete Protestpartei KORWIN scheiterte ganz knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Das WAHLKOMITEE DER DEUTSCHEN MINDERHEIT (MN) bleibt hingegen weiter mit einem Vertreter im polnischen Parlament vertreten. Insgesamt zeigt das Wahlergebnis einen deutlichen Rechtsruck in unserem östlichen Nachbarland an.

Das Ergebnis der Wahl zum Senat, der zweiten Kammer des polnischen Parlaments, spiegelt ebenfalls in eindrücklicher Weise den politischen Erdrutsch wieder: RECHT UND GERECHTIGKEIT (PIS) gewinnt 29 Mandate hinzu und stellt künftig 61 der 100 Senatoren. Die bislang auch im Senat führende BÜRGERPLATTFORM (PO) verliert hingegen 28 Sitze und stellt damit nur noch 34 Mitglieder des Senats. Die POLNISCHE VOLKSPARTEI muss eines ihrer beiden Mandate abgeben. Daneben haben erneut vier unabhängige Bewerber den Einzug in die zweite Kammer des polnischen Parlaments geschafft.

 

Den vollständigen Artikel als Pdf finden Sie unter: 2015-10-25 Parlamentswahlen in Polen

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