Von der ersten christlichen Meinungsumfrage bis heute
Beitrag von: Helmut Matthies
Es gibt kaum etwas Interessanteres für politisch, wirtschaftlich oder kulturell engagierte Bürger als Meinungsumfragen.
Europas auflagenstärkste Tageszeitung, die BILD, platziert beispielsweise den INSA-Wahlcheck immer häufiger auf der Titelseite, weil die Ergebnisse offensichtlich die Leser mehr als vieles andere bewegen. Mittlerweile wird allein die Frage, welche Partei man wählen würde, bereits von drei Instituten jede Woche veröffentlicht: INSA, Kantar (Emnid) und Forsa. Das war noch vor zehn Jahren völlig unüblich und zeigt die wachsende Bedeutung von Befragungen der Bürger. Das haben längst auch andere gesellschaftliche Institutionen erkannt: von Medien über Wirtschaft, Kultur, Politik bis hin zu den Kirchen.
Schon immer wollten Menschen wissen, was andere über sie, andere und anderes denken. Das gilt auch für den viele Menschen prägenden religiösen Bereich.
Mohammed fragte seine Anhänger: „Wer bin ich?“
In seinem Buch „Mohamed – Eine Abrechnung“ (2015 im Verlag Droemer erschienen) beschreibt der islamische deutsch-ägyptische Bestsellerautor Hamed Abdel-Samad, wie der Initiator dieser 1,8 Milliarden zählenden Weltreligion vorging, der von 570 bis 632 nach Christus im heutigen Saudi-Arabien lebte. In einer islamischen Schrift heißt es: „Der Prophet hörte, was die Leute über ihn erzählten. Er bestieg die Kanzel in der Moschee und fragte die Menge: ‚Wer bin ich?’ Die Gläubigen antworteten: ‚Du bist der Gesandte Allahs.’ Er erwiderte: ‚Ich bin Mohamed, Sohn von Adb Allah, Sohn von Abd al-Muttalib. Als Allah die Menschen schuf, machte er mich den besten unter ihnen. Er teilte die Menschen in zwei Gruppen auf und machte mich in der besten. Dann schuf er die Stämme und machte meinen Stamm den besten. Dann teilte er die Stämme in Clans auf und machte meinen Clan den besten. Deshalb bin ich der Beste unter euch, charakterlich und genealogisch.’“
Dazu kommentiert Buchautor Abdel-Samad: „Die Tatsache, dass Mohamed es nötig hatte, vor einer versammelten Menge zu fragen: ‚Wer bin ich?’ oder zu betonen ‚Ich bin der Beste unter euch’, zeigt, wie sehr ihn die Spekulationen über seine Abstammung und die langjährige Ablehnung gekränkt haben … Nachdem er auf der Kanzel alle Namen seiner Vorfahren aufgelistet hatte, sagte Mohamed: ‚Ich bin aus einer Ehe entstanden, nicht aus Unzucht.’“ Hier diente also die Meinungsumfrage dazu, die Stellung eines religiösen Führers zu festigen. Dabei ist anscheinend nur eine Antwort erlaubt gewesen, denn es sind keine Alternativen überliefert.
Die erste christliche Meinungsumfrage ist fast 2.000 Jahre alt
Die erste christliche Meinungsumfrage ist noch rund 600 Jahre älter. Über sie berichten drei der vier Evangelien im Neuen Testament: Matthäus 16,13-17; Markus 8,27-29; Lukas 9,18-20. Es war eine Befragung, die nicht nur ein Ergebnis – wie bei Mohammed – hatte. Damit entsprach sie dem Wesen einer Umfrage. Denn es gehört zum Menschsein, dass es unterschiedliche Bewertungen gibt. Ergebnisse, die zu hundert Prozent übereinstimmen, gibt es eigentlich nur in Diktaturen.
Diese spezielle Umfrage startete Jesus Christus, der Begründer der mit 2,3 Milliarden Mitgliedern größten Religion. Zu der Befragung kam es, als Christus zusammen mit seinen 12 Jüngern im Heiligen Land unterwegs war, predigte und heilte. Das erste neutestamentliche Buch, das Evangelium, das von Matthäus, einem der Jünger von Jesus, aufgeschrieben worden war, berichtet darüber folgendes: Als sich Christus in der Gegend der weithin heidnischen Stadt Cäsarea Philippi im Norden Palästinas befand, fragte er seine 12 engsten Gefährten: „‘Wer sagen die Leute, dass der Menschensohn sei?‘ sprachen: ‚Einige sagen, du seist Johannes der Täufer (ein Vorläufer von Jesus), andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia (beide waren längst verstorbene jüdische Propheten) oder einer der (anderen) Propheten.‘ Er sprach zu ihnen: ‚Wer sagt denn ihr, dass ich sei?‘ Da antwortete Simon Petrus und sprach: ‚Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn!‘ Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: ‚Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.‘“ (Matthäus 16,13-17)
Die Umfrage ergab nur eine richtige Antwort
Die Meinungsumfrage ergab also, dass in der jüdischen Bevölkerung nur dem Jesus-Jünger Petrus bewusst war, dass Christus der im Alten Testament von den Propheten verheißene Heiland bzw. Gesalbte (auf Hebräisch Messias, auf Griechisch Christus) war – also der von Gott versprochene Retter aller Menschen.
Umfragen können nicht ermitteln, was wahr ist
Umfragen geben nur wieder, was gedacht wird. Aber sie können nicht die Frage nach der Wahrheit beantworten.
Doch was ist Wahrheit? Diese Frage richtete der Statthalter des römischen Kaisers Tiberius in der jüdischen Provinz Judäa, Pilatus, an keinen geringeren als Jesus Christus kurz vor dessen Kreuzigung im Jahr 30. Darüber berichtet ein weiterer Jünger von Jesus, Johannes, in seinem Evangelium im 18. Kapitel (Verse 28–40). Und dabei geht es wieder um eine Meinungsumfrage, die nicht die Wahrheit zutage brachte, sondern sogar den Tod eines Unschuldigen zur Folge hatte: „Da führten sie Jesus von (der Gerichtsverhandlung unter Vorsitz des jüdischen Hohenpriesters) Kaiphas vor das Prätorium (der Zentrale des Statthalters); es war aber früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein in das Prätorium, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten. Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sprach: ‚Was für eine Klage bringt ihr vor gegen diesen Menschen?’ Sie antworteten und sprachen zu ihm: ‚Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet.’ Da sprach Pilatus zu ihnen: ‚So nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz.’ Da sprachen die Juden zu ihm: ‚Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten.’
Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: ‚Bist du der Juden König?’ Jesus antwortete: ‚Sagst du das von dir aus, oder haben dir’s andere über mich gesagt?’ Pilatus antwortete: ‚Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?’ Jesus antwortete: ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von hier.’ Da sprach Pilatus zu ihm: ‚So bist du dennoch ein König?’ Jesus antwortete: ‚Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.’ Spricht Pilatus zu ihm: ‚Was ist Wahrheit?’
Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und sprach zu ihnen: ‚Ich finde keine Schuld an ihm. Ihr habt aber die Gewohnheit, dass ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden losgebe?’ Da schrien sie wiederum: ‚Nicht diesen, sondern Barabbas!’ Barabbas aber war ein Räuber.“
Die Meinungsumfrage des Heiden Pilatus, der einen Unschuldigen freilassen wollte, führte hier zur Freilassung eines Kriminellen und zur Kreuzigung eines Gerechten: des Sohnes Gottes. Der römische Statthalter hatte zwar das richtige Empfinden, musste aber erleben, dass er die Menge nicht überzeugen konnte.
Auch erfuhr er keine Antwort auf die Frage, was Wahrheit ist. Eine Meinungsumfrage kann eben ermitteln, was Menschen für wahr halten. Das ist eine große Leistung, die oft viel Gutes bewirken kann. Doch Wahrheit selbst kann eine Meinungsumfrage nicht ermitteln. Wahrheit gibt es wirklich, aber selbst das, was wirklich ist, ist nicht immer erfragbar. Ob mich jemand wirklich liebt, darauf kann ich letztlich nur vertrauen. Wer wissen will, ob Jesus Christus die Wahrheit bezeugt, muss sich ihm anvertrauen, sich auf ihn einlassen.
Helmut Matthies ist Journalist, Publizist und Theologe. Er war von 1978 bis 2017 Chefredakteur der evangelischen Nachrichtenagentur «idea». Seit Februar 2018 ist er ehrenamtlicher Vorsitzender des idea-Trägervereins. Matthies ist Autor des Buches „Gott kann auch anders“, Verlag: fontis – Brunnen Basel.